Das Prinzip Reihenhaus
von Hilke Wagner

»Alle Menschen haben den gleichen Organismus mit den gleichen Funktionen. Alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse. Der Gesellschaftsvertrag, der sich im Lauf der Jahrhunderte stetig weiterentwickelt, bestimmt Klassen und Funktionen der Menschen, und damit Standardbedürfnisse, die Standardlösungen zeitigen. Das Haus ist ein dem Menschen notwendiges Erzeugnis. Das Bild ist ein dem Menschen notwendiges Erzeugnis, notwendig um geistige Bedürfnisse, die von typischen inneren Regungen bestimmt sind zu befriedigen. Alle großen Werke der Kunst gehen auf einige wenige typische Regungen des Herzens zurück: Ödipus, Phädra, der verlorene Sohn, die Madonnen, […]. Einen Standard entwickeln, heißt alle praktischen und vernünftigen Möglichkeiten erschöpfen, heißt einen als zweckgerecht erkannten Typ auf ein Höchstmaß an Leistung und auf ein Mindestmaß an aufzuwendenden Mitteln […] zu bringen.« (1) Le Corbusier, 1922

In der Plattenbauten-Serie arbeitet Benjamin Badock mit einem System von 40 Druckplatten (36 x 51 cm), die immer wieder neu farbig ausgestaltet und kombiniert werden. Er bedient sich bei der Druckstock-Herstellung der traditionsreichen und anachronistisch anmutenden Methode des Holzschnittes, bei dem von einem Holzbrett mit einem Schneidemesser die nicht druckenden Teile entfernt und die erhabenen Teile danach im Hochdruckverfahren eingefärbt und abgedruckt werden. Stehen in der klassischen Methode des Holzschnittes jedoch die Linie und die Form im Vordergrund, so erweitert Benjamin Badock sie ins Malerische: Dem Material – der Farbe – kommt hier eine weitaus größere Bedeutung zu als dies in der langen Tradition dieser Technik üblicherweise der Fall ist.(2) Badock druckt immer neue Farbschichten übereinander und rückt so die Prozesshaftigkeit der Entstehung ins Zentrum seines Interesses. Die Druckplatten werden immer wieder gereinigt und neu verwendet, es ist ihnen keine feste Farbigkeit zugeordnet. Das Bild entsteht daher nicht auf der Druckplatte, sondern während des Arbeitsprozesses, das heißt während des fortwährenden Überdruckens. Die Farben überlagern sich, bestehende Flächen gehen verloren, neue Farbfelder entstehen. Die Wahl der Farbe erfolgt dabei intuitiv, mitunter steht sie aber wie die Ausführung insgesamt in direktem Zusammenhang mit dem Inhalt, der dargestellten Hausart: die Barracks sind im militärischen Grün gehalten, die Reihe der Blockhäuser dagegen, anmutend wie düstere Wachskratzbilder, betont die Struktur des Holzes, andere Plattenbauten wirken futuristisch-utopisch, kühl-elegant oder kindlich-naiv.

Überhaupt entwickelt Benjamin Badock aus der begrenzten Anzahl von Modulen schier unendliche Kombinationen und Konstellationen: Die Gebäude stehen vor unterschiedlichen Hintergründen, hinter Maschendrahtzäunen, Berglandschaften oder Hecken, sind mit Balkonen oder Satellitenspiegeln ausgestattet oder auf Le Courbusiersche Stelzen gestellt. Daneben fensterlose gelbe Rundbauten, eine phantastische Architektur, die ihre Inspiration in der so genannten Revolutionsarchitektur des ausgehenden 18. Jahrhunderts(3) gefunden haben mag. Oder sind es Planetarien, Raketenstationen, Kernkraftwerke, Bunker, die hier als Inspiration dienten? Wie dem auch sei, stets entstehen Reihen mehr oder weniger gleichförmiger Architekturen, die dann enden, wenn die Kongruenz durch farbliche oder formale Veränderungen nicht mehr gegeben ist.

Der Abdruck erfolgt bei Badock stets durch Abreibung per Hand(4) und steht allein in der Methode schon im Widerspruch zu der durch den Plattenbau verkörperten industriell-perfekten Massenfertigung. Bei aller Serialität ist jede Arbeit ein Unikat. Ein Unikat jedoch, das mitunter und je nach Serie horizontal oder vertikal (theoretisch unendlich) erweitert werden kann, denn die 40 Druckplatten-Module sind zum Teil im Reihenhaus- oder Hochhausprinzip immer wieder neu kombinierbar. Wie das Prinzip Modul an sich, trägt diese Methode immer auch die megalomane Hoffnung des Größeren in sich, die jedoch – nicht nur in Badocks handgedruckten Plattenbauten – zum Scheitern verurteilt ist. Der Traum von einer uniformen Stadt, bestehend aus gleichförmigen Wohneinheiten, leitete auch Le Corbusier (1887 – 1965), der mit seiner Unité d‘Habitation(5) als Hochhaustyp das Vorbild moderner Plattenbauten lieferte. Grundgedanke war die Abkehr vom Historismus und seinen verspielten Formen, sowie die Reduktion auf das Wesentliche und die Verwendung neuer Materialien wie Beton, Stahl und Glas. Für Le Corbusier spielte hierbei der Verzicht auf Dekoration und die Verwendung einheitlicher Materialien zugunsten eines uniformen Erscheinungsbildes die entscheidende Rolle. Der Modularität entsprechend, sollten Gesamtsysteme aus standardisierten Einzelbauteilen zusammengesetzt und für einen »gleichen« Menschen eine ebenso gleichförmige Architektur geschaffen werden. Während Chesterton das Zuhause als Ort der Freiheit des kleinen Mannes beschreibt, so war für Le Corbusier klar, dass allein eine uniforme Architektur aus elementaren geometrischen Formen und frei von rein dekorativen Effekten dem Menschen entsprechen könne. Der »Sentimentalität« und dem Dekor stellte er die geometrische Ordnung, die rational-einfache Einheitlichkeit entgegen. Doch das Dekor siegt über sachliche Einheitlichkeit und funktionalen Purismus: Egal ob Wohnmaschine, Plattenbau oder Reihenhaus, der Mensch ist Individuum und seine Lust zur Gestaltung entfaltet sich am freiesten im eigenen Wohnumfeld. Dies musste bereits der junge Le Corbusier erkennen, wenngleich er zeitlebens die Hoffnung nicht aufgab, dass der Mensch eines Tages reif sei für das »neue Wohnen«.

Doch wie viel Individualismus verträgt das System? Wann wird Kompabilität unmöglich und aus dem System eine Reihung monolithischer Elemente?

1 Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, (1922), Frankfurt a. M. 1963, S. 107f.
2 Ob im japanischen oder chinesischen Holzschnitt, im Holzschnitt des Expressionismus oder später bei HAP Grieshaber.
3 Sie erinnern an die utopischen Architekturentwürfe von Etienne Louis Boullée oder Claude-Nicolas Ledoux.
4 Gerade »fehlerhafte Abriebe« verleihen dabei dem Druck eine besondere, fast haptische Oberflächenqualität: hier wird die Form mitunter in ihrer Dreidimensionalität erfassbar.
5 Realisiert wurden derartige, nach dem von Le Corbusier entwickelten Maßsystem Modulor konzipierten Wohneinheiten vor allem zwischen 1947 und 1965 in Marseille und Berlin. Durch Serienproduktion wollte Le Corbusier ein hohes Maß an Effizienz erreichen. Diese Wirtschaftlichkeit und die weite Verbreitung sollten einer breiten Masse einen erhöhten Wohnkomfort ermöglichen. Damit sind die Wohneinheiten Vorläufer der Plattenbauten.

(c) Hilke Wagner, 2008