Eine neue Morgenröte des Holzschnitts
Zum Werk von Benjamin Badock

von Michael Stoeber

Wohl jeder an Kunst Interessierte kennt das berühmte Wort von Picasso, er habe mit acht Jahren wie Raffael malen können, aber ein ganzes Leben gebraucht, um wie ein Kind zu malen. Den Bewunderern des Jahrhundertgenies klingt hier vor allem in den Ohren, dass Picasso bereits als Kind in der Lage war, wie einer der großen der Kunstgeschichte zu malen. Dabei wird leicht übersehen, dass er nicht nur in eigener Sache spricht, sondern uns auch etwas Fundamentales über das Wesen des Künstlers mitteilt. Es geht nicht darum, in der Kunst Kindliches zu produzieren, vielmehr sich etwas Wertvolles aus der Kindheit zu bewahren. Picasso musste diese Gabe sogar neu erwerben, wurde er doch bereits in jungen Jahren von seinem Vater zu artistischen Nachahmungsleistungen angespornt, durch die er sie verlor. Es handelt sich bei ihr um den staunenden Blick des Kindes auf die Welt, der alle Erscheinungen um sich herum so sieht wie am ersten Tag, da er ihnen begegnet. Allein in diesem staunenden Blick, der zugleich ein neugieriger ist, wird er die Dinge neu entdecken. Und ihnen Seiten abgewinnen, an denen der müde Blick des gleichgültig Gewordenen abgleitet, der in ihnen immer nur das allzu Gewohnte und sattsam Bekannte sieht. Und allein in dieser forschenden, entdeckenden und untersuchenden Haltung wird der Künstler auch uns, die Betrachter seiner Werke, für seine Kunst zu interessieren wissen. Denn wenn wir eines von der Kunst und vom Künstler erwarten, dann ist es dies: Dass sie uns die Welt und Wirklichkeit nicht zeigen, wie wir sie ohnehin schon kennen, sondern neu und frisch, aufregend und unbekannt. Sodass wir über sie staunen können, wie der Künstler über sie staunt. Im Guten wie im Schlechten.

Einer, der sich als Künstler im besten Sinne dieses Staunen über die Welt und Wirklichkeit bewahrt hat und bis heute auf die Phänomene seines Alltags mit dem verwunderten Blick eines Ethnologen schaut, der eine unbekannte und exotische Spezies studiert, ist der 1974 in der damaligen Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, geborene Benjamin Badock. Davon legt schon seine erste Werkserie Zeugnis ab, mit der er bekannt geworden ist, medial, formal und inhaltlich. Medial hat er sich in ihr einer der ältesten Techniken zugewandt, welche die bildende Kunst kennt, dem Holzschnitt. Wenn wir an ihn denken, kommen uns grandiose Beispiele in den Sinn. Die Biblia pauperum des Mittelalters, die in einprägsamen Bildern den nicht Schreib- und Lesekundigen die Geschichten der Bibel erzählt. Albrecht Dürer, der als unübertroffener Meister seiner Zeit 1519 das markante Porträt Kaiser Maximilians in Holz schnitzt. Lucas Cranach, der im Bild des „St. Christophorus“ den ersten Farbholzschnitt in Clair-obscur Technik ausführt. Oder im letzten Jahrhundert die Bilder der Expressionisten, die den Holzschnitt im Gewand kraftvoller Linien und schmerzender Farben erneuern. In der Renaissance und im Expressionismus erlebt dieses Medium gewiss künstlerische Höhepunkte. Doch auch in anderen Zeiten war der Holzschnitt präsent. Selbst wenn er nicht im Fokus artistischer Aufmerksamkeit stand, ist er nie ganz vergessen worden, weil es immer Künstler gab, die mit ihm gearbeitet haben. Man denke für die letzten Jahrzehnte beispielsweise an entsprechende Werke von Georg Baselitz, A. R. Penck oder Sigmar Polke. Aber uns fällt in der Gegenwart so leicht niemand ein, der den Holzschnitt mit solcher Entschiedenheit und Ausschließlichkeit betreiben würde wie Benjamin Badock. Und der ihm darüber hinaus, neue Ausdrucksfacetten und neue technische Möglichkeiten erschlossen hat.

Seine erste große Werkserie, für die er sich des Holzschnitts bedient, und zwar von Anfang an in innovativer Weise, sind seine „Plattenbauten“ (2007). Diese Häuser hat der Junge, der im dörflichen Teil von Karl-Marx-Stadt aufwuchs, erst im Alter von etwa sechs Jahren kennen gelernt. Aber natürlich waren sie fast so etwas wie ein Wahrzeichen der DDR-Architektur. Aus Betonfertigteilen errichtet, standen sie einerseits für den Baufortschritt im Sozialismus, der menschenwürdiges Wohnen für alle verwirklichen wollte. Andererseits waren sie in ihrer Uniformität aber auch Ausdruck eines gleichmacherischen Kollektivismus. Und der wurde in dem Maße als unerträglich empfunden, als er mit immer stärkeren Zwängen den Einzelnen dem Staatswillen unterwarf. Die „Platte“, die mit den Jahren zunehmend uniformer, grauer und trostloser aussah, wurde zum Ausdruck und Symbol dieses Zustandes. Badock ist, als er seine Werkserie der „Plattenbauten“ fertigt, bereits seit mehreren Jahren Student an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Sie ist seine Diplomarbeit, aufgrund der er von Olav Christopher Jenssen als Meisterschüler angenommen wird. Er erinnert sich in ihr an die Plattenbauten in der DDR und errichtet ihnen in seinen Holzschnitten ein so zugeneigtes wie ironisches Memorial. Dabei bedient er sich im Prinzip einer ähnlichen, indes im Holzschnitt bisher unbekannten Montagetechnik, wie sie ebenfalls der Architektur der Plattenbauten zugrunde liegt. Das Ganze der Häuser wie der Holzschnitte wird aus kombinierbaren Einzelteilen gefertigt. Insofern hat der Titel der Werkserie eine ambivalente Bedeutung. Badock zeigt Plattenbauten, aber er montiert sie auch aus Platten. Aus einem Set von Teilen, die er immer wieder neu zusammensetzt. Ähnlich wie man das bei einem Puzzle tun würde, nur dass die Teile hier formatidentisch sind. Im Ganzen entwickelt der Künstler mehr als vierzig Module, jedes von ihnen 36 x 51 cm groß. Diese Formelemente färbt er in variierenden Motivzusammenhängen immer wieder anders ein. So erweitert er nicht nur das Ausdrucksspektrum des Farbholzschnittes in genial einfacher Weise, sondern lässt auch die grauen Bauten seiner Jugend in splendider Farbigkeit neu erstrahlen. In Badocks Holzschnitten scheint sich nachträglich in spielerischer Weise das Propagandawort von der Morgenröte des Sozialismus einzulösen.

An diese frühe Werkserie schließt Benjamin Badock mit seinem jüngsten Kunstprojekt an, bei dem er im Internet Sammler und Liebhaber seiner „Plattenbauten“ auffordert, zu ihrem eigenen „Bauherrn“ zu werden und bei ihm ein Haus ihrer Wahl zu bestellen, gefertigt aus seinen Plattenbaumodulen, aber nach ihren ganz persönlichen Form- und Farbvorstellungen. Die historische Bevormundung der Bürger durch den Staat, die sich mit der Plattenbauarchitektur verband, dreht er in einer ingeniösen Volte um. Sein Kunde tritt ein ins Reich der Freiheit. Er bestimmt nun über das Aussehen seines Hauses. Ob es rund oder eckig ist, welche Dächer, Fenster und Balkone es haben soll und ob er es hinter einer Hecke verstecken will oder nicht. Ob es allein oder im Verbund mit anderen steht, ob im Grünen oder in der Stadt, ob sein Haus ein- oder mehrfarbig ist. Aber auch das Verhältnis von Künstler und Betrachter, von Kunstproduzent und Kunstkunde, tritt ein in eine ganz neue Phase der Interaktion. In der Moderne haben wir uns ja eben erst an die Konzeptkunst gewöhnt. Daran, dass die Idee zu einem Kunstwerk unter Umständen wichtiger ist als seine Ausführung. Letztere können, wie beim Bau eines Hauses, viele übernehmen, während die Idee des Gebäudes durch den Architekten wie die des Werks durch den Künstler bestimmt wird. Mit dieser konzeptuellen Dimension des zeitgenössischen Kunstwerks spielt Benjamin Badock in der vorläufig letzten Ausformung seines Plattenbauprojekts. Er überlässt die Entscheidung über Form und Farbe, über die Signatur der von ihm zu fertigenden Holzschnitte dem Kunden. Der Kunstbetrachter tritt damit heraus aus seiner eher passiven Rolle und wird zum aktiven Gestalter. Auch wenn der Baukasten, aus dem er sich bedient nach wie vor von Badock stammt, hat es ein so weit gehendes Mitspracherecht in der Kunst bisher noch nicht gegeben.

In den Werken, die auf die „Plattenbauten“ folgen, entwickelt Benjamin Badock den Holzschnitt und sein Drucksystem in zweierlei Hinsicht weiter. Zum einen perfektioniert er das von ihm gefundene Modulsystem, dessen kleinstes Element nun 13 x 13 cm umfasst. Sein Bausatz besteht ausschließlich aus Quadraten, Rechtecken, Dreiecken und Kreissegmenten. Mit den klassischen Elementen der konstruktiven Kunst bleibt Badock indes nicht im Bereich der Abstraktion, sondern schafft gegenständlich grundierte, erzählende Werke. Die Synthetisierung zweier gegensätzlicher ästhetischer Sprachen macht den großen künstlerischen Reiz seiner Holzschnitte aus. Badock kann diese Elemente so kombinieren, dass kein Schnitt mehr notwendig ist. Er muss also nicht mehr mühsam das Holz aus seiner Platte graben, um auf diese Weise druckende Stege und Inseln zu gewinnen, die das Motiv darstellen. Hat der traditionelle Holzschnitt dabei für jede neue Farbe einen eigenen Druckstock gefertigt, verschiebt Badock seine Module nun einfach gegeneinander. Er verwendet sie immer wieder neu und druckt mit ihnen neben-, in- und übereinander. Der Künstler, der als Maler mit Pinsel und Leinwand angefangen hat, kann dabei in Farbe geradezu schwelgen. Da die Module keine ihnen fest zugeordneten Farben haben, kommt es zu immer neuen Varianten in den Bildern, im Übereinanderdruck auch zu überraschenden Vermischungen. Badocks Drucke sind im zweifachen Sinne Palimpseste. Bei seiner Strategie drängen nicht nur die Pigmente aus dem Grund der Blätter an die Oberfläche, sondern ebenfalls aus dem Grund seiner Platten. Wenn er darüber hinaus von Hand druckt und dabei auf die Hilfe der Maschine verzichtet, trägt jeder Abzug seine Handschrift und wird auf eigene Art malerisch. Unnötig zu sagen, dass jedes Blatt so fast wie von selbst zum Unikat wird, wobei der Künstler regelmäßig auch nur zwei, drei Blätter von einem Motiv druckt.

Hat sich Badock in den „Plattenbauten“ allein auf die Präsentation von Architekturen konzentriert und dabei ausschließlich die Fassaden im Blick gehabt, erweitert sich in neueren Werken sein Erkenntnisinteresse auf das Innere der Häuser, auf ihre Bewohner und darüber hinaus auf ihr Lebensumfeld. Noch vor dem Haus bleibt das spielende, junge Mädchen in „Ball“ (2009). Die Anregung zur Farbigkeit ihres Balls fand Benjamin Baddock bei einem Studienaufenthalt in Sizilien. Auf den zweitausend Jahre alten Mosaiken der Villa Romana in Piazza Armerina spielen Frauen im Bikini, der also keine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts ist, zu ihrem Vergnügen mit exakt so einem Ball. „Balkon“ (2009) zeigt uns zwar schon eine Bewohnerin, aber noch nicht das Innere ihrer Wohnung. Dagegen verbinden sich Innen- und Außenansicht in dem sechsteiligen Werk „Kaktus“ (2009), das in der Kunstsammlung der VGH ist. Die Frau am Fenster und der Kaktus vor dem Fenster, rechts und links der zweifarbigen Fassade im Mittelteil, ziehen uns gewissermaßen bereits in das Innere des Hauses. Das Werk ist nicht nur von exquisiter Farbigkeit, sondern auch von ausgewogener Symmetrie und Proportion. Uneindeutig zwischen Innen und Außen schwankt dagegen das Bild „Panoramatapete“ (2009). Der Titel des Werks verweist zwar einerseits auf das Innere einer Wohnung; sein Motiv indes, ein konstruktiv gefertigtes Arkadien aus Berg, Bach, Wald, Tal, Ziege und Schäfer in schönen Braun-, Blau- und Grüntönen, auf ein Außen. Endgültig Einlass ins Haus finden wir mit dem Holzschnitt „Interieur“ (2009). Er zeigt einen Kamin, der komplexer nicht sein könnte. Er erinnert an einen Monitor wie an das schwarze Quadrat von Malewitsch. Das Feuer, das in ihm brennt, wenn er denn in Betrieb genommen wird, ruft die Malempfehlungen Leonardos ins Gedächtnis. Sie lenken den Blick des Betrachters auf die raffinierten Farben des Holzschnitts wie auf seine harmonische Zentrierung, die das Objekt auf dem Kamin unterstreicht und zugleich konterkariert. Ein weiteres „Interieur“ mit roter Untermalung aus dem Jahr 2011 zieht uns ebenfalls in das Innere einer Wohnung. Ins Auge sticht an dem sechsteiligen Werk ein Bild im Bild. Ein Gemälde aus Streifen, dessen gestische Faktur in reizvoller Weise quer steht zum streng orthogonalen Duktus des Holzschnitts.

Und in der Tat hat der Künstler das Ausdrucksspektrum seines Mediums hier einmal mehr zu erweitern gewusst. Er hat als weiteren Druckstempel neben dem Holz das Styropor entdeckt, das er nicht schneidet, sondern ätzt. Nicht nur das Streifenbild, auch die zarte, ebenfalls aus dem rechten Winkel ausbrechende Gardine in „Tageschau I“ (2011) verdanken sich dieser Erfindung, während der irisierend zerfließende Lampenfuß in „Tagesschau II“ (2011) verlaufend gedruckt ist. In diesen Bildern wirkt der in seinem Interieur vor dem Fernseher fest gefrorene Mensch so, als sei er selbst Teil der Einrichtung. Ein Eindruck, den die ihnen gemeinsame, konstruktive Bildsprache ganz wesentlich verstärkt. Das gestische, dem Styropor geschuldete Idiom taucht in überzeugender Weise auch in „The Artist“ (2011) auf. Dort ist es die schwarzweiße Bildermappe der Künstlerin, welche die gestische Signatur trägt. Das Bild entstand während eines Arbeitsaufenthaltes von Benjamin Badock in der Leipziger Spinnerei, Ort vieler Künstlerateliers und Galerien. Sie haben ihn über den Status von Kunst und den Kunstmarkt nachdenken lassen. „Swinging Door“ (2011) mit dem Menschen in der Mitte zwischen „In“ und „Out“ reagiert darauf in symbolischer Weise. Der Abstand, der Erfolg und Misserfolg voneinander trennt ist oft ebenso klein wie der zwischen dem Lächerlichen und Erhabenen. Das Werk „Schild“ (2011) mit dem Schriftzug „Bohei“ lässt sich als ähnlicher Reflex verstehen. Schrift als ornamental abstraktes Schriftbild ist ein weiteres Motiv in den Holzschnitten Badocks. Es zeigt sich vielleicht am Schönsten in „Schild (von hinten wie von vorn)“ aus dem Jahre 2010, ebenfalls in der Sammlung der VGH. Seine roten und grünen Kuben und Rechtecke formieren sich zu dem Wort „AHA“, das gleichermaßen von vorne wie von hinten zu lesen ist. Ein Palindrom, wie es auch Kurt Schwitters schätzte, der das Mädchen Anna nicht zuletzt deshalb so liebte, weil er ihren Namen in genau dieser Weise lesen konnte, was ihm als untrügliches Zeichen ihrer preisenswerten Vielseitigkeit galt. Schriftbilder gibt es noch andere im Werk des Künstlers. Ebenso Hinweise auf verehrte Künstlerkollegen. „Camouflage“ (2009) ist ein solches Bild. Der Mann dort verschmilzt farblich nicht nur mit der Wand hinter ihm, sondern auch Benjamin Badocks Holzschnitt in diskreter Weise mit den Camouflage-Bildern von Andy Warhol. Wobei der Künstler selbst alles andere als verschwindet. Er bleibt ganz im Gegenteil in hervorragender Weise sichtbar.

(c) Michael Stoeber, 2011